Berliner Morgenpost - Februar 2003
Igal Avidan

Geliebte Normalität

Seit der Premiere im vergangenen Juli verfolgte der 33-jährige Regisseur Nir Bergman täglich den Kartenverkauf seines Debütfilms "Gebrochene Flügel". "In den ersten drei Wochen fand an jedem Donnerstag ein Terroranschlag statt," erinnert er sich. "Und jeden Donnerstag sank die Zahl der verkauften Karten." Marek Rosenbaum, einer des größten israelischen Produzenten, beobachtet einen Rückgang von 20 Prozent der Kinozuschauer in den vergangenen zwei Jahren. "Besonders bemerkbar ist dies bei Kinderfilmen, die in Kinos spielen, die sich in Einkaufszentren befinden. Die Eltern haben Angst."

Doch die israelische Normalität, die der Kinobesuch repräsentiert, scheint stärker zu sein als der palästinensische Terror gegen Zivilisten. Bergmans Film über die Familie Ulman, der die Sehnsucht nach dieser Normalität so überzeugend darstellt und den traumatisierten Israelis einen Hauch von Trost und viel Gelegenheit zu weinen anbietet, wurden der Kassenschlager des Jahres.

Über 200 000 Israelis besuchten Bergmans Episoden über die Familie Ulman, die den Anschein eines geregelten Lebens aufrecht zu halten versucht. Trotz Gewalt, trotz wirtschaftlicher Krise blüht die israelische Filmlandschaft. Das kleine Land ist mit einer Rekordzahl von neun Filmen auf der diesjährigen Berlinale vertreten.

Ein neues Kinogesetz bewirkte in den vergangenen zwei Jahren, dass sich öffentliche Fördergelder verdreifachten und sich die Zahl der Produktionen verdoppelte. Die Fernsehsender sind per Gesetz verpflichtet, eigene Dramen zu produzieren. Daher drehen immer mehr junge Absolventen der Filmhochschulen Filme statt Werbespots. Im Gegensatz zu früher betreiben die Filmemacher keinen Nabelschau mehr, sondern bringen Geschichten auf die Leinwand, die für viele Israelis relevant sind. Etwa im Spielfilm "Yossi & Jagger": Eytan Fox erzählt die heimliche Liebesgeschichte zweier Offiziere in der israelischen Armee in einem bergigen Stützpunkt an der Grenze zum Libanon. Anders als in den Abendnachrichten erscheinen die Soldaten als unpolitische Heranwachsende, die sich hauptsächlich für Sex und Techno interessieren, nicht für den Krieg. Die Armee lehnte jede Zusammenarbeit mit der Produktion ab, das Team musste in einer stillgelegten Militärbasis drehen und Waffen und Uniformen selbst organisieren.

"Yossi & Jagger" wurde ein Renner für viele Israelis, auch für viele Soldaten. "Mehrere Militäreinheiten kamen auf eigene Entscheidung ins Kino," erzählt der Regisseur. Monatelang waren alle Aufführungen dieser kleinen Fernsehproduktion ausverkauft, und als er endlich im TV-Kabelkanal ausgestrahlt wurde, brach er alle Zuschauerrekorde dieses Senders.

Auch die Welle des neuen Patriotismus angesichts des palästinensischen Terrors zieht immer mehr Israelis zu einheimischen Produktionen. Der Konflikt mit den Palästinensern gehört nicht dazu. Dennoch setzen sich mit dem Thema viele Dokumentarfilmer auseinander, die auch politisch Brisantes mit staatlicher Förderung drehen. "Beim Jerusalem Film Festival brachten wir einen Film des israelischen Arabers Nizar Hassan, in dem Dorfbewohner Israels Unabhängigkeitstag als ihren Tag der Katastrophe darstellten", erzählt Liya van Leer, Leiterin des Festivals und der Jerusalem Cinematheque. Seit Ausbruch der Intifada sei die Zusammenarbeit ihres Hauses mit ähnlichen Institutionen in Ost-Jerusalem und Ramallah gescheitert, weil von arabischer Seite nicht erwünscht. Eine Ausnahme bildet das Projekt "Grenze" der Filmhochschule in Jerusalem: Israelis und Palästinenser wollen mit 12 Kurzfilmen ein 75- minütiges "Israel ohne Grenzen" schaffen.

www.pro-fun.de